PROLOG
Von Timan, der toten
Stadt
Dichter Nebel hing
über den Mauern und Straßen der Stadt. Bedrückende Stille
herrschte vor, tiefes Dunkel fraß sich durch Gassen und Ruinen und
nur vereinzelt hallte ein Rumpeln oder Poltern durch die kalten und
nassen Überreste dieser vergessenen Gemäuer. Manchmal hallten Schreie,
seltener auch hysterisches Gelächter von den Stadtmauern wider, die die Bewohner unter ihren unerreichbaren Höhen zu
ersticken drohten. Als die Sichel des Mondes in dieser Nacht von
einer undruchdringlich schwarzen Wolke verschluckt wurde, war die
Stille nahezu greifbar. Nichts rührte sich. Kein Kind wagte es zu
schreien, kein Hund zu bellen. Der beißende Rauch vereinzelter Feuer
und der typisch menschliche Gestank von Exkrementen und Müll hing in
der Luft. Im Schein eines dieser Feuer, nahe dem Lager der Borgne,
blitzte ein Schatten auf, der sich an einer Ruine vorbeischlich und
sofort wieder verschwand. Leise weinte nun ein Kind und das
beruhigende Murmeln einer besorgten Mutter erklang unnatürlich laut.
Dies was Timan, die
Hauptstadt Tinerohs, das einst eines der schönsten und fruchtbarsten
Länder auf der Erde war. Doch die guten alten Zeiten waren längst
so weit in die Vergangenheit gerückt, dass die Bewohner Timans nur
noch in vagen Legenden davon zu berichten wussten. Und Legenden gab
es viele...
Die Menschen hatten
durch ihren Drang nach Macht ihre Welt so sehr zerstört, dass in den
vergessenen Landen, wie Tineroh auch genannt wurde, längst kein Gras
mehr wuchs. Sie hatten auf der Suche nach neuen Technologien, neuen
Arten der Kriegsführung, die fruchtbare Erde ausgebeutet und
verseucht. Nukleare Anschläge hatten das Land außerhab der
Stadtmauern, aber auch Teile Timans, zur Sperrzonen gemacht. Der
Krieg hatte Chaos und Zerstörung gebracht und schon lange war der
Grund dafür in Vergessenheit geraten. Zurückgeblieben war ein Volk,
gefangen hinter den hohen Mauern der Stadt und die Suche nach einem
Schuldigen.
Diese
fanden die Timaner in dem, was vom Schloss und der königlichen
Familie noch übrig war. Der Kaiser lebte dort mit seiner Frau, dem
gemeinsamen Sohn und dem Personal, ohne dass keiner der Blaublüter
auch nur einen einzigen Tag überleben würden. Und dort verharrten
sie, als warteten sie darauf, dass etwas passieren oder jemand
erscheinen würde, der sie zum Sieg führen oder ein ähnlich
absurdes Wunder vollbringen könnte. Die timan'sche Armee war kaum
vierhundert Mann stark und tagtäglich damit beschäftigt
Bürgerkriege und Aufstände zu zerschlagen, die letzten kaiserlichen
Vorratskammern zu bewachen und vor allem Rebellen aufzuspüren und zu
vernichten. Denn nun, wo keine feindlichen Truppen mehr vor der Stadt
warteten, richtete sich das wutzerfressene Herz des Kaisers auf die
Bedrohung von innen, und die gab es in Form der Rebellen im Überfluss.
Wie viele Menschen
oder menschenähnlichen Kreaturen in Timan lebten, war schwer zu
sagen. Die letzte Volkszählung war mindestens dreißig Jahre her. Es
war kaum vorstellbar, dass sich die Population der damals
siebzigtausend Bewohner gesteigert haben könnte. Immer wieder fegten
neue, unbekannte Seuchen die Straßen leer, rafften die Menschen
dahin und der Hunger holte sich die Schwächsten und Kranken. Zwischen all dem Tod, dem Hunger und der Verzweiflung kämpfte jeder
gegen jeden. Jeder Tag bestand aus dem Kampf ums Überleben und dem
Wunsch das kaum durch die schwarzen Wolken dringende Tageslicht noch
einmal zu erblicken. Währenddessen versteckten sich die Rebellen mit
ihren Kinder und deren Kindern in den Schatten der Stadt und warteten
auf ihre Chance den Kaiser und seine Familie aus dem Schloss zu
zerren und zu meucheln.
Zumindest war es das,
was er befürchtete. Der Kaiser hatte längst jegliches Vertrauen in
sein Volk verloren. Er war schon alt, als er den Krieg gegen den Rest
der Welt verloren hatte und nun war er dem Tode nah. Er hasste die
Timaner und sie hassten ihn.
Dass sie alle nur
verlieren konnten, wenn sie nicht Stärke durch Einigkeit bewahrten,
hatten die Stadtbewohner schnell begriffen. Doch die Überzeugungen
spalteten sich durch mangelnde Führung, und so bildeten sich
Stämme Gleichgesinnter, die Timan durch das Recht des Stärkeren in
zahlreiche Lager spalteten. Einzig die Rebellen bildeten so etwas wie
eine Union. Sie erkannten den Kaiser als einzigen Feind, nicht aber
die restlichen Bewohner der Stadt, auch wenn diese die Rebellen
ebenso hassten wie andere Stämme, den Kaiser oder die Menschen
außerhalb der hohen Mauern. Generation für Generation führten die Rebellen ihren Kampf gegen den Kaiser, das Ziel ihn zu stürzen stets vor
Augen, Timan zu einigen, zu befreien und letztlich auch die Länder
wieder zu vereinen. Ein Kampf, der vor nicht allzu vielen Jahren im
Sande zu versiegen drohte. Denn auch die Rebellen lebten nicht im
Überfluss. Und als es für sie kaum noch möglich war, sich gegen
die königliche Familie und den Hass der Timaner aufzulehnen und die
Demotivation sie zu übermannen drohte, stellte sich ein junger Mann
von kaum sechzehn Jahren an ihre Spitze und änderte damit den
Verlauf der Geschichte so einschneidend, wie er selbst es kaum für
möglich gehalten hätte.
Seit jener Zeit waren Tage zu
Wochen geworden, Monate zu Jahren. Der Unterschied zwischen Tag und
Nacht war kaum erkennbar und die Jahreszeiten waren zu einem
undefinierbaren Einheitsbrei aus Nässe, Kälte und einem unheilvoll
schwarzen Himmel verschwommen. Die Zeit war schon lange kein
greifbares Maß mehr, da ein Tag dem anderen glich, dominiert durch
die allgegenwärtige Angst. Ruinen, die wie gefräßige Monster über
den Menschen einstürzten, entblößten ihre hässlichen Gerippe
dort, wo einst pompöse Bauwerke die Stadt schmückten. Wo vor langer Zeit romantische Alleen verliefen, war der Erdboden aufgerissen und
entblößte scharfkantige Asphaltmäuler. Zwischen all der
Hilflosigkeit überlebten nur jene, für die Mord, Diebstahl und
Betrug zur Tagesordnung gehörten, denn wer zu schwach war, wurde
einfach vom großen grauen Nichts der Stadt verschluckt. Und so fiel
es auch nicht auf, wenn Menschen verschwanden. Natürlich nicht, denn
jeder war sich selbst am nächsten.
Der einzige Schatz,
den die Menschen noch hüteten, war neben Essbarem, der Fortschritt
und die Wissenschaft. Die Soldaten des Kaisers waren mit modernster
Technik ausgestattet. Nicht selten gelang es den Timanern vereinzelte
Wachposten zu überfallen und zu töten. Passierte dies, ging der
Kampf um die Cyberware los. Nicht selten trugen sie mobile
Kampfmaschinen anstelle von Armen oder Beinen und verloren so immer
mehr von ihrer Menschlichkeit. Und auch der Kaiser wusste diesen
Schatz zu nutzen. In seinen Laboren entwickelte er all jene
wundersamen Dinge, die den Soldaten abgenommen werden konnten und
durch die viele Timaner ihr Leben ließen.
Als in jener
Nacht des Sichelmondes wieder einmal eines von vielen Kindern
verschwand, ein junges Mädchen mit warmen, mandelförmigen Augen,
gelang dem Kaiser ein wissenschaftlicher Durchbruch, der im Schloss
einen hoffnungsvollen Funken der Leidenschaft entzündete.
Das Mädchen wurde
von niemandem vermisst, außer ihrem kleinen Bruder, dessen schwarzes
Haar wie Stacheln in alle Windrichtungen stand und dessen ebenfalls
mandelförmigen Augen wild und verzweifelt in der ganzen Stadt nach
ihr suchten. Diese Suche war es, die ihn vor dem sicheren Tod
bewahrte. Und diese Augen waren es, die ihn als ersten Außenstehenden
das Versteck der Rebellen finden ließ. Dort überlebte er, so weit es unter der Erde der toten Stadt Timan möglich war.
Drei Jahre waren seit
diesem Tag vergangen und er hatte seine Schwester und den Glauben an ihr Überleben niemals aufgegeben. Bis ein göttliches Wesen in ihrer aller Leben trat, und dem Jungen seine letzte Familie zu nehmen drohte.
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