Freitag, 31. Mai 2013

That One - Prolog

 
PROLOG
Von Timan, der toten Stadt


Dichter Nebel hing über den Mauern und Straßen der Stadt. Bedrückende Stille herrschte vor, tiefes Dunkel fraß sich durch Gassen und Ruinen und nur vereinzelt hallte ein Rumpeln oder Poltern durch die kalten und nassen Überreste dieser vergessenen Gemäuer. Manchmal hallten Schreie, seltener auch hysterisches Gelächter von den Stadtmauern wider, die die Bewohner unter ihren unerreichbaren Höhen zu ersticken drohten. Als die Sichel des Mondes in dieser Nacht von einer undruchdringlich schwarzen Wolke verschluckt wurde, war die Stille nahezu greifbar. Nichts rührte sich. Kein Kind wagte es zu schreien, kein Hund zu bellen. Der beißende Rauch vereinzelter Feuer und der typisch menschliche Gestank von Exkrementen und Müll hing in der Luft. Im Schein eines dieser Feuer, nahe dem Lager der Borgne, blitzte ein Schatten auf, der sich an einer Ruine vorbeischlich und sofort wieder verschwand. Leise weinte nun ein Kind und das beruhigende Murmeln einer besorgten Mutter erklang unnatürlich laut.
Dies was Timan, die Hauptstadt Tinerohs, das einst eines der schönsten und fruchtbarsten Länder auf der Erde war. Doch die guten alten Zeiten waren längst so weit in die Vergangenheit gerückt, dass die Bewohner Timans nur noch in vagen Legenden davon zu berichten wussten. Und Legenden gab es viele...
Die Menschen hatten durch ihren Drang nach Macht ihre Welt so sehr zerstört, dass in den vergessenen Landen, wie Tineroh auch genannt wurde, längst kein Gras mehr wuchs. Sie hatten auf der Suche nach neuen Technologien, neuen Arten der Kriegsführung, die fruchtbare Erde ausgebeutet und verseucht. Nukleare Anschläge hatten das Land außerhab der Stadtmauern, aber auch Teile Timans, zur Sperrzonen gemacht. Der Krieg hatte Chaos und Zerstörung gebracht und schon lange war der Grund dafür in Vergessenheit geraten. Zurückgeblieben war ein Volk, gefangen hinter den hohen Mauern der Stadt und die Suche nach einem Schuldigen.
Diese fanden die Timaner in dem, was vom Schloss und der königlichen Familie noch übrig war. Der Kaiser lebte dort mit seiner Frau, dem gemeinsamen Sohn und dem Personal, ohne dass keiner der Blaublüter auch nur einen einzigen Tag überleben würden. Und dort verharrten sie, als warteten sie darauf, dass etwas passieren oder jemand erscheinen würde, der sie zum Sieg führen oder ein ähnlich absurdes Wunder vollbringen könnte. Die timan'sche Armee war kaum vierhundert Mann stark und tagtäglich damit beschäftigt Bürgerkriege und Aufstände zu zerschlagen, die letzten kaiserlichen Vorratskammern zu bewachen und vor allem Rebellen aufzuspüren und zu vernichten. Denn nun, wo keine feindlichen Truppen mehr vor der Stadt warteten, richtete sich das wutzerfressene Herz des Kaisers auf die Bedrohung von innen, und die gab es in Form der Rebellen im Überfluss.
Wie viele Menschen oder menschenähnlichen Kreaturen in Timan lebten, war schwer zu sagen. Die letzte Volkszählung war mindestens dreißig Jahre her. Es war kaum vorstellbar, dass sich die Population der damals siebzigtausend Bewohner gesteigert haben könnte. Immer wieder fegten neue, unbekannte Seuchen die Straßen leer, rafften die Menschen dahin und der Hunger holte sich die Schwächsten und Kranken. Zwischen all dem Tod, dem Hunger und der Verzweiflung kämpfte jeder gegen jeden. Jeder Tag bestand aus dem Kampf ums Überleben und dem Wunsch das kaum durch die schwarzen Wolken dringende Tageslicht noch einmal zu erblicken. Währenddessen versteckten sich die Rebellen mit ihren Kinder und deren Kindern in den Schatten der Stadt und warteten auf ihre Chance den Kaiser und seine Familie aus dem Schloss zu zerren und zu meucheln.
 Zumindest war es das, was er befürchtete. Der Kaiser hatte längst jegliches Vertrauen in sein Volk verloren. Er war schon alt, als er den Krieg gegen den Rest der Welt verloren hatte und nun war er dem Tode nah. Er hasste die Timaner und sie hassten ihn.
Dass sie alle nur verlieren konnten, wenn sie nicht Stärke durch Einigkeit bewahrten, hatten die Stadtbewohner schnell begriffen. Doch die Überzeugungen spalteten sich durch mangelnde Führung, und so bildeten sich Stämme Gleichgesinnter, die Timan durch das Recht des Stärkeren in zahlreiche Lager spalteten. Einzig die Rebellen bildeten so etwas wie eine Union. Sie erkannten den Kaiser als einzigen Feind, nicht aber die restlichen Bewohner der Stadt, auch wenn diese die Rebellen ebenso hassten wie andere Stämme, den Kaiser oder die Menschen außerhalb der hohen Mauern. Generation für Generation führten die Rebellen ihren Kampf gegen den Kaiser, das Ziel ihn zu stürzen stets vor Augen, Timan zu einigen, zu befreien und letztlich auch die Länder wieder zu vereinen. Ein Kampf, der vor nicht allzu vielen Jahren im Sande zu versiegen drohte. Denn auch die Rebellen lebten nicht im Überfluss. Und als es für sie kaum noch möglich war, sich gegen die königliche Familie und den Hass der Timaner aufzulehnen und die Demotivation sie zu übermannen drohte, stellte sich ein junger Mann von kaum sechzehn Jahren an ihre Spitze und änderte damit den Verlauf der Geschichte so einschneidend, wie er selbst es kaum für möglich gehalten hätte.
 Seit jener Zeit waren Tage zu Wochen geworden, Monate zu Jahren. Der Unterschied zwischen Tag und Nacht war kaum erkennbar und die Jahreszeiten waren zu einem undefinierbaren Einheitsbrei aus Nässe, Kälte und einem unheilvoll schwarzen Himmel verschwommen. Die Zeit war schon lange kein greifbares Maß mehr, da ein Tag dem anderen glich, dominiert durch die allgegenwärtige Angst. Ruinen, die wie gefräßige Monster über den Menschen einstürzten, entblößten ihre hässlichen Gerippe dort, wo einst pompöse Bauwerke die Stadt schmückten. Wo vor langer Zeit romantische Alleen verliefen, war der Erdboden aufgerissen und entblößte scharfkantige Asphaltmäuler. Zwischen all der Hilflosigkeit überlebten nur jene, für die Mord, Diebstahl und Betrug zur Tagesordnung gehörten, denn wer zu schwach war, wurde einfach vom großen grauen Nichts der Stadt verschluckt. Und so fiel es auch nicht auf, wenn Menschen verschwanden. Natürlich nicht, denn jeder war sich selbst am nächsten.
 Der einzige Schatz, den die Menschen noch hüteten, war neben Essbarem, der Fortschritt und die Wissenschaft. Die Soldaten des Kaisers waren mit modernster Technik ausgestattet. Nicht selten gelang es den Timanern vereinzelte Wachposten zu überfallen und zu töten. Passierte dies, ging der Kampf um die Cyberware los. Nicht selten trugen sie mobile Kampfmaschinen anstelle von Armen oder Beinen und verloren so immer mehr von ihrer Menschlichkeit. Und auch der Kaiser wusste diesen Schatz zu nutzen. In seinen Laboren entwickelte er all jene wundersamen Dinge, die den Soldaten abgenommen werden konnten und durch die viele Timaner ihr Leben ließen.

Als in jener Nacht des Sichelmondes wieder einmal eines von vielen Kindern verschwand, ein junges Mädchen mit warmen, mandelförmigen Augen, gelang dem Kaiser ein wissenschaftlicher Durchbruch, der im Schloss einen hoffnungsvollen Funken der Leidenschaft entzündete.
Das Mädchen wurde von niemandem vermisst, außer ihrem kleinen Bruder, dessen schwarzes Haar wie Stacheln in alle Windrichtungen stand und dessen ebenfalls mandelförmigen Augen wild und verzweifelt in der ganzen Stadt nach ihr suchten. Diese Suche war es, die ihn vor dem sicheren Tod bewahrte. Und diese Augen waren es, die ihn als ersten Außenstehenden das Versteck der Rebellen finden ließ. Dort überlebte er, so weit es unter der Erde der toten Stadt Timan möglich war.
 
Drei Jahre waren seit diesem Tag vergangen und er hatte seine Schwester und den Glauben an ihr Überleben niemals aufgegeben. Bis ein göttliches Wesen in ihrer aller Leben trat, und dem Jungen seine letzte Familie zu nehmen drohte.



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