Freitag, 14. Dezember 2012

Short Stories & Anthologies - Part II

Memories Of Mina

"Die Haustür fiel nur ganz leise ins Schloss", erinnerte sich Sophie, eine Mittdreißgerin mit tiefen Ringen unter den grünen Augen. "Aber ich habe es gehört. Ich habe es immer gehört, wenn er nach Hause kam, weil ich wusste, dass schon der Haustürschlüssel Mina* einen Schauer verpasste, wenn er ihn im Türschloss drehte. Dafür brauchte ich mich nicht im Bett umdrehen und zu ihr herüber sehen."

Sophie atmet hörbar ein und sinkt tiefer in den Ledersessel. Einen Augenblick gleitet ihr leerer Blick durch den Raum. Dann blinzelt siedrei Mal schnell hintereinander und macht kreisende Bewegungen mit ihren Schulter, als würde sie damit eine unangenehme Verspannung vertreiben.
"Mommy hatte ihn kennen gelernt, als die noch in Trauer um Dad war. Es ist so ihre Art. Passiert etwas, das sie eigentlich nicht verkraftet, flüchtet sie. Genauso wie sie aus Estland geflohen ist, als Oma von Rowdys überfallen und zusammengeschlagen wurde und dann später im Krankenhaus gestorben ist."
Bei der Erinnerung an ihre Großmutter verzieht sich Sophies Gesicht zu einer Grimasse aus Trauer und Liebe. "Ich glaube nicht, dass sie ihn wirklich geliebt hat. Aber als er erst einmal eingezogen war, übernahm er die Herrschaft über alles. Über Mommy, über mich und vor allem über Mina." Sie schüttelt kaum merklich den Kopf und starrt wie hypnotisiert auf das metallene Pendel auf dem Schreibtisch, das gleichmäßige Kreise in den feinen Sand darunter zeichnet.

"Wenn er von seiner Kneipentour kam, meistens spät in der Nacht, spielte es keine Rolle, ob wir schon schliefen oder nicht. Wir bekamen es immer mit, wenn er nach Hause kam. Mina verkrampfte dann immer innerlich. Ich konnte das spüren. Auch wenn sie nie ein Wort darüber verlor. Und wenn er dann leise unsere Zimmertür öffnete und sich an ihre Bettkante setzte um sie zu streicheln, sie fast liebevoll zu fragen, wie ihr Tag war, antwortete sie nicht." Sophie runzelt die Stirn.
"Es war kein Geheimnis. Er gab sich nicht einmal Mühe es zu vertuschen. Und er drohte auch nie. Wir wussten, dass er uns totgeprügelt hätte, hätten wir es gewagt etwas zu sagen. Das kannten wir schon von Mommy. Wagte sie es sich gegen ihn aufzulehnen, schlug er sie, bis sie um Verzeihung bettelte." Ein eiskalter Shauer läuft ihr über den Rücken.
"Er knipste das Licht an, wenn er so da saß; auf ihrer Bettkante. Und während er ihr über das Haar strich, ihre Wange streichelte und seine Hände schließlich fordernd nach ihren Brüsten grapschten, die erst im vergangenen Sommer angefangen hatten zu wachsen, verströhmte er seinen Alkoholdunst im gesamten Zimmer. Ich rieche seinen Gestank noch heute." Sophie schüttelt sich heftig, als müsse sie Tausende kleine Insekten los werden.
"Sie hat sich nie gewehrt. Obwohl sie am liebsten geschrien und um sich geschlagen hätte, gab sie nie einen Laut von sich... Und mit jedem Mal, das er zu uns ins Zimmer kam, fühlte ich mich schlechter, weil ich nichts tat um sie zu beschützen."

Eine einzelne Träne läuft ihr über die Wange. "Ich hätte es ihr abgenommen. Und ich verstehe bis heute nicht, warum er mich nie anrührte, sondern immer nur sie. Ich meine, schließlich sind wir Zwillinge. Er hätte den Unterschied wahrscheinlich gar nicht gemerkt. Aber davon wollte sie nie etwas wissen. Sie sagte immer, sie müsse das tun, damit ich weiter machen konnte. Welche 13-Jährige tut so etwas?" Nun beginnt sie zu schluchzen und die Tränen laufen ihr in Strömen über das Gesicht.

"Ich weiß nicht, wie sie das ertragen hat. Ich sah ein, vielleicht zwei Mal, wie er seinen schlaffen Schwanz an ihrem Gesicht gerieben hat, bis er hart wurde, und mir wurde so schlecht von dem Anblick, dass ich mich abwandte. Und dann habe ich aufgehört hinzusehen.
Ich versuchte sein Röcheln zu ignorieren, wenn er sich auf sie legte und ihre arme, kleine Kindermuschi fickte." Sie kneiftdie Augen zusammen, so dass ihre billige Mascara sich auf ihren Lidern verteilt und dreht den Kopf zur Seite, als wolle sie dem Bild vor ihrem Inneren Auge entfliehen.
"Selbst wenn ich das geschafft hätte, hätte ich niemals Minas unterdrücktes Schluchzen ignorieren können. Ich höre es heute noch. Und es tut mir weh, als wäre ich es selbst gewesen, die das alles ertragen musste."

Ihre Tränen versiegen. Sophie hat nichts mehr dazu zu sagen. Sein Tod war notwendig gewesen und sie hätte es immer wieder so gemacht, wie sie es damals getan hatte. Minas Märtyrium war nun 16 Jahre her. Sie war 18 gewesen, als er eines Nachts nah Hause kam und so betrunken war, dass ihm sein Standartfick im Mädchenzimmer nicht gereicht hatte. Er hatte Mina nicht nur vergewaltigt, sondern auch windelweich geschlagen. Dabei verletzte er sie so heftig, dass sie bereits tot war, während er seinen Schwanz noch in sie hineinstieß. Da hatte es ihr gereicht und Sophie hatte den versilberten Brieföffner vom Schreibtisch neben Minas Bett genommen und auf ihn eingestochen, bis er reglos blutend auf ihr lag. 36 Stiche waren es gewesen. Tot war er schon nach dem zwölften oder vierzehnten Stoß mit dem Brieföffner. Sophie hätte noch hundert Mal zu stechen können, wäre es nach ihr gegangen, doch ihre Mutter war endlich in das Zimmer geschlichen und hatte sie gehalten, bis Sophie sich beruhigt hatte und die Mordwaffe aus ihrer schlaffen Hand rutschte.
16 Jahre war das her. Und doch ist es, als wäre all das erst gestern passiert.


Dr. Norman Joel Attkinson setzt beide Füße auf dem Teppichboden vor sich ab und lehnt sich tief in seinen Sessel, legt sein Klemmbrett mit den Notizen neben sich auf den kleinen Tisch und betrachtet die Frau vor sich, die nun leer ins Nichts starrt.
"Sophie?"
Er spricht sie noch einmal an und sie schreckt leicht hoch, als sie ihn endlich wieder wahrnimmt und fragend aus müden Augen ansieht.
"Wer sind Sie?" fragt er ruhig und streicht sich dabei mit der Rechten über das leicht stoppelige Kinn.
Sophie hebt fragend die Augenbrauen.
"Ich bin Sophie Elaina Kisipuu."
"Und wer ist Mina?"
"Meine Schwester. Meine Zwillingsschwester."
 Attkinson atmet drei Mal durch und reibt sich die gerunzelte Stirn.
"Sie müssen damit aufhören, Miss Kirsipuu."
"Womit?"
Ein seltsames Dejavu-Gefühl stellt sich ein.
"Sie müssen damit aufhören, ihr Alterego zu personifizieren, Miss Kirsipuu. Sie haben keine Schwester. Ihr Unterbewusstsein hat sie erschaffen, um ertragen zu können, was Ihr Stiefvater Ihnen angetan hat. Sie müssen begreifen, dass Sie eine dissoziative Störung haben, damit sie genesen können."
Sophie beobachtet ihren Therapeuten, während er die Worte langsam und ruhig spricht, sagt jedoch nichts.
"Das alles waren sie selbst. Stellen Sie sich der Wahrheit, Miss Kirsipuu. Sonst können wir sie niemals entlassen. Und das möchten Sie doch? Entlassen werden?"

Sophie sieht verträumt aus dem Fenster. Nein, denkt sie, das will ich nicht.



*Mina: estnisch "Ich"

4 Kommentare:

  1. Huh, das hat mich jetzt wirklich berührt. Ich hätte gern eine der "Reaktionen" angeklickt, leider kann ich keine davon nehmen, weil nichts davon stimmt!

    Du hast nun auch eine neue Followerin! Quasi Blogleser-Tausch - mach weiter so! Ich habe immernoch Gänsehaut.

    Lieben Gruß,
    Carina

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ich habe ein paar Freundinnen, denen so etwas wirklich passiert ist, jedoch ohne den Mord. Mit einer dieser Frauen hatte ich meine längste Beziehung bisher überhaupt, und wir lieben uns noch heute. Ich war damals der erste Mann, dem sie das erzählt hat, und ich habe es damals nur durch "Zufall" herausgefunden. Aber das mit der phantasierten Zwillingsschwester kommt mir bekannt vor, kann mich aber gerade nicht daran erinnern, wo ich das schon mal gelesen oder gehört habe.

      Löschen
    2. Hmmm das kann ich dir leider auch nicht sagen... die einzige zwillingsschwester die mir da einfallen würde ist die aus "Gestorben am 17. Juli" oder so ähnlich... da geht's um Zwillinge ^^

      muss aber gestehen, dass es mir selbst ne gänsehaut verpasst, dass das hier jemand liest, der sowas dann auch noch real irgendwie mitbekommen hat... ich mein, das is ja nur ne geschichte..

      Löschen